10.03.2008
Fäden, die am Leben hindern
Katja Faltinsky
Von Katja Faltinsky
Höchst. An
Stellwänden im Höchster Jugend- und Kulturzentrum (Jukuz) sind Bilder
aufgehängt: Eines zeigt den Körper einer Frau, eine Spitze deutet auf
ihren entblößten Bauch. Von anderen Bildern blicken blasse Gesichter
herab, scheinen im Schrei erstarrt zu sein. Es ist das Gefühl der
Verletzung, dass der Psychotherapeutin Gisela Graf-Scheffl an diesen
Bildern auffällt.
Um Verletzung geht es an diesem Abend immer
wieder: Anlässlich des Weltfrauentags dreht sich die Diskussion im
Jukuz um Tabus hinter verschlossenen Wohnungstüren. Zum „Umdenken“
haben die „Internationale Frauen-Selbsthilfegruppe“ und die
„Selbsthilfegruppe Seelische und körperliche Gewalt in der Kindheit“
eingeladen. Psychotherapeutin Graf-Scheffl hat die Moderation
übernommen. Sie hilft den Zuhörern, indem sie das Gehörte kommentiert
und einordnet. Und sie hilft den Referenten bei der Diskussion über
ihre mitunter sehr persönlichen Schilderungen.
Ulrike M. Dierkes, Autorin des Buches „Schwestermutter. Ich bin ein
Inzestkind“, erzählt an diesem Abend ihre Geschichte: Ihre Mutter wurde
von ihrem Vater seit dem siebten Lebensjahr missbraucht und mit
dreizehn Jahren schwanger. So ist ihre Mutter auch ihre Halbschwester,
ihr Vater gleichzeitig ihr Großvater. Die Schriftstellerin und
Journalistin Dierkes, Jahrgang 1957, engagiert sich seit Jahren für
Opfer von Inzest, 1996 hat sie den Verein „Melina Inzestkinder –
Menschen aus Vergewaltigung“ gegründet.
Bei ihrem Vortrag im Jukuz legt Dierkes einen Schwerpunkt auf den
Inzest, der mit innerfamiliärem Missbrauch zusammenhängt. Sie erklärt,
dass ein solcher inzestuöser Missbrauch in jeder Gesellschaftsschicht
auftreten könne. Sie selbst habe das Glück, geistig und körperlich
unversehrt zu sein. In anderen Fällen hätten Inzestkinder mit schweren
Schädigungen von Geburt an zu kämpfen. „Es gibt also Gründe, die
Naturgesetze als Grenze zu achten“, sagt Dierkes. „Inzest ist eine
Grenzüberschreitung.“
Die Diskussion an diesem Abend betrifft aber auch andere Opfer von
häuslicher Gewalt und Missbrauch. Eine Teilnehmerin erzählt von der
Arbeit der „Internationalen Frauen-Selbsthilfegruppe“ und betont, dass
die Gewalt gegen Frauen in manchen Fällen nicht in der Kindheit ende,
sondern sich im weiteren Leben fortsetze und auch die nächste
Generation betreffen könne.
Im Zentrum der Diskussion steht die Hilfe für Betroffene. „Letzten
Endes geht es um Heilung“, sagt die Psychotherapeutin Graf-Scheffl. „An
diesem Abend soll es darum gehen, Mut zu machen, einen eigenen Weg zu
finden.“ Einen allgemeinen Weg zur Heilung, den gebe es nicht.
Tatsächlich zeigt der Themenabend im Jukuz, wie unterschiedlich diese
Wege sein können.
Michael Dietz von der „Selbsthilfegruppe Seelische und körperliche
Gewalt in der Kindheit“ trägt das Gedicht einer jungen Frau vor: Es
erzählt von dem Gefühl, von der eigenen Familie als deren Marionette
und Eigentum behandelt zu werden. Die Autorin schreibt von „Fäden, die
sie hinderten am Leben“ – und von ihrem eigenen Weg, diese Fäden zu
durchtrennen.
Auch die Malerin, die an diesem Abend ihre Bilder zeigt, ist ein Opfer
von Gewalt in der Kindheit. Nel Anders nennt sie sich, ein
Künstlername. Auf einem Handzettel ist nachzulesen, wie ihr die Malerei
geholfen hat, das Erlebte zu verarbeiten. Erst später habe sie eine
Therapie begonnen. „Heute habe ich einen gewissen Abstand zu meinen
Bildern gewonnen“, schreibt sie. „Sie erzählen einen Teil meines
Lebens, aber sie sind nicht mehr mein Leben.“